Und damit sind wir bei der Inszenierung dieses Stückes, mit der ein Meister seines Faches das Publikum „bestückte”: Stefan Suschkes setzte um, was dieses Stück zur Parabel werden lässt; denn die Menschen auf der Bühne agierten nicht wie normale Menschen. Das fängt bei den Augen an: die Ränder zugeklebt, kaum erkennbar die Pupille, absonderlicher Kopfputz,die Münder überkonturiert; sodann die völlig exaltierte Körpersprache, die den Rückschluss lieferte auf Regungen, die im Innern wohnen: die Regung der Begehrlichkeit, die Regung des Neides, des Geizes, der Machtbesessenheit entstellt auch die Körper, zumal die der Damen: übergroß der Achtersteven mit entsprechender Auslegung der feisten Ware im frontalen Oberteil. Sie alle stelzten mehr als dass sie gingen. Und dies alles im Dienste einer fiesen, einer miesen Welt, die aufbrandet vor einem Wesen, das nur noch den Hauch einer Erscheinung, gerade eben noch Mensch genannt, zur Anschauung brachte: Shen Te. Schlank, fast dürr die Gute, spärlich gekleidet, aber in den Stand versetzt, dank einer Guttat von den Göttern reichlich mit Geld belohnt zu werden, bereit, damit fortan Gutes zu tun. Doch ach! „Die Hand, die dem Elenden gereicht wird, reißt er einem sogleich aus! Wer den Verlorenen hilft, ist selbst verloren.” Das erfährt Shen Te am lebendigen Leibe. Sie ist nicht nur Parabel, sie ist auch die von Bert Brecht aufs Tableau gehobene „Verfremdung”. Immer ist ihre Stimme lieblich, piepsig, naiv kindlich, wenn man nicht hinschaut, kindisch, wenn man sieht, dass sie von einem gestandenen Freudenmädchen ausgesendet wird. Da macht sich Komik breit, die, frei nach Dürrenmatt, nur umso deutlicher die Tragik des Lebens zu porträtieren weiß. Anne Berg stellte sich mit Bravour diesem überwältigenden Anspruch drei Wochen vor der Premiere im September abgerufen aus dem Studium. Groß denn auch alle jene, die es mit und neben ihr halten mussten: Yang Sun, der Flieger (Daniel Senf), ein Widerling, ein Schleimer, der dennoch bei Shen Te landete. Seine Verrenkungen gehen unter die Haut, zeugen sie doch von einem Raffinement, mit dem der ungute Mensch zu etwas kommen will. Auf seiner Linie fährt auch seine Mutter (Uta Eisold), die vor allem durch ihre Mimik den Kotzbrocken in ihrem Innern herauslässt, das Ganze in noch gesteigerter Form bei Claudia Fritzsche als Hausbesitzerin Mit Tsü. Aber genug der Huldigungen!
Was wollte Bertolt Brecht uns bringen? Ein Lehrstück? Angedacht war es. Aber von oben ist nichts zu erwarten. Die Götter entschwinden alsbald: „Leider können wir nicht bleiben mehr als ein flüchtige Stund”. Soll das Publikum die Lösung finden? Wohl kaum, sagt ein Spieler doch: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.” Leider war dieser bekannte Satz am Ende nicht zu vernehmen. Vor diesem Hintergrund fällt die Antwort auf die Frage auch nicht schwer, ob Brecht schon 1940, als „Der gute Mensch” entstand, ideologisch auf den Kommunismus eingeschworen war. Das war er natürlich noch nicht. Dafür gaben ihm die noch verbleibenden eineinhalb Jahrzehnte seines Lebens noch Zeit. Das Nenndorfer Publikum wurde also nicht nur „bestückt”, es wurde beglückt mit einer famosen, ja, grandiosen Darbietung der Schauspieler aus Marburg; entsprechend grandioser Beifall. Foto: privat