„Können wir einmal reingehen und nachsehen, was dort so schön leuchtet“, höre ich einen kleinen Jungen fragen, der die schwere Kirchentür der Godehardi-Kirche in Bad Nenndorf nur einen Spalt aufgeschoben hat. Wortlos kommt er offenbar mit seiner Mutter herein. Mich bemerken sie gar nicht.
„Das ist aber ein cooles Licht“, ruft der Junge in die Kirche, dass es von allen Ecken widerhallt. „Das ist aber auch ein sehr großer Stern, oder Mama? Wer hat den Stern denn gebastelt und warum leuchtet er? Es ist doch niemand in der Kirche?“
Sie gehen gemeinsam näher an den Stern heran, der weit oben im Kirchengewölbe hängt und sein warmes Licht in die Weite der Kirche verschenkt. Die Mutter beginnt zu erklären, was es mit dem Stern auf sich hat.
„Ein Erzieher, so einer wie der bei Dir im Kindergarten, hatte vor vielen Jahren die Idee dazu“, begann sie. „Er unterrichtete viele Kinder, die in Internaten lebten. Zur Weihnachtszeit vermissten sie natürlich ihre Eltern, die im Ausland waren. Um ihnen die Advents- und Weihnachtszeit zu verschönern und ihnen ein Gefühl von Geborgenheit zu geben, hat er diese Art Stern erfunden.“
Der Erzieher war wohl ein Mathematiklehrer, heißt es in der offiziellen Erläuterung der heutigen Hersteller. Er entwickelte den Stern zunächst auch, um ihn als didaktisches Werkzeug im Mathematikunterricht einzusetzen. Er sollte den Schülern helfen, ein besseres räumliches Verständnis für komplexe geometrische Körper zu entwickeln.
Die ersten Sterne dieser Art, aus Papier und Pappe, bastelte der Erzieher vor etwa 175 Jahren, gemeinsam mit den Schülern. Daraus wurde schnell eine feste Tradition in diesen Internaten. Die Schüler trugen diesen Brauch später in ihre Familien und die Missionsgemeinden in aller Welt. Von dort verbreitete sich dieser Stern immer weiter und weiter. Inzwischen ist er weltbekannt, als Herrenhuter Stern, da er in Herrnhut, in der Oberlausitz, in Sachsen, hergestellt wird. Einer der größten, mit einem Durchmesser von 2,50 Meter, hängt jedes Jahr im Bundeskanzleramt in Berlin.
„Und warum hängt einer dieser Sterne hier in der Kirche?“, bohrt der Junge nach. „Das kann verschiedene Gründe haben“, versucht die Mutter weiter zu erklären. „Jetzt, vor Weihnachten, erinnert er an den biblischen Stern, der den Weisen den Weg zur Krippe, zum Jesuskund zeigte. Die Erwachsenen sagen, es ist das Licht der Welt, ein Stern für die Hoffnung, auch ein Zeichen für die Verbundenheit, für den Frieden. Ich glaube, dass der Stern in dieser Kirche das ganze Jahr über leuchtet, nicht nur zu Weihnachten, als Symbol für Gottes Beistand in unserem Leben.“ – „Was ist mit Dir, Felix? Warum sagst Du nichts mehr?“ –
Erst nach einiger Zeit reagiert Felix, immer noch ganz auf den Stern fixiert: „Mama“ „Ja, Felix.“ „Mama, können wir nicht auch bei uns so einen Stern aufhängen?“ „Bei uns in der Wohnung? – Wenn Du meinst. Das Licht gefällt Dir wohl zu gut?“ – „Ja, und vielleicht hilft der Stern, dass es bei uns nicht mehr so viel Streit gibt.“
Die ganze Zeit lausche ich dem Gespräch. Aber jetzt möchte ich mich am liebsten unsichtbar machen. Zu spät. „Komm mein Junge. Es wird Zeit“, flüstert die Mutter dem Kind zu. Nimmt ihn an die Hand und begleitet ihn zum Ausgang. An der Tür bleibt der Junge stehen und dreht sich nochmals um: „Der Stern ist wirklich schön, oder? Und was der alles kann! Holen wir uns einen dieser Sterne?“ „Ja, ich schaue mal, wo wir einen bekommen könnten“, antworte die Mutter, die sich selbst noch einmal dem Stern zuwendet – und mich, den stillen Beobachter, dabei entdeckt. Ihr Blick sprach Bände.