Auf einer Kirchenkanzel stehen normalerweise Pastoren, manchmal auch Laienprediger oder Personen des Kirchenvorstands. Immer jedoch Menschen mit einer engen Beziehung zur Kirche und somit auch konfessionsgebundene Kirchensteuerzahler. Pastor Dr. Jörg Mosig von der evangelischen St. Nikolai Kirche geht neue Wege beim Gottesdienst und lässt auch Menschen sprechen, die auf der „Bürgerkanzel” den Blick von außen auf die Kirche legen. Es gehe, so Mosig, dabei eher um Glaube als um Kirche und die Bürgerkanzel, so der Pastor, öffne Türen für solchen Außenansichten. Einen noch stärkeren Blick von außen als Katja Keul kann man sich kaum vorstellen, denn Keul, deren Großeltern beide Pastoren waren, ist selbst konfessionslos. Seit 2009 ist sie Mitglied der grünen Bundestagsfraktion und kommt politisch aus der Szene der Abrüstungsdebatten der 1980er Jahre. Beruflich konzentrierte sie sich auf das, was sie persönlich am wenigsten ertragen konnte und kann: „Ungerechtigkeit!” Und so wurde sie Rechtsanwältin mit einem besonderen Fokus auf Familienrecht und bekam so schon bald einen tiefen Einblick in die Gesellschaft mit all ihren Problemen. Deshalb, so Keul von der Kanzel der Nikolai-Kirche herunter, habe sie sich auch mit vollem Antrieb dem Kampf gegen Kinderarmut durch Einführung der Kinder-Grundsicherung gewidmet und freue sich umso mehr, als das Familienministerin Paus sich ebenso mit aller Kraft dafür einsetze. Dabei verschwieg Keul nicht, dass sie zur Frage der aufkeimenden Politik- und Demokratieverdrossenheit der Menschen selbst auch schon Momente der Verzweiflung hatte und Gedanken, sich einfach nur noch ihrer Familie zu widmen. Doch ihre Hoffnung und der Glaube an ihr Handeln sei immer wieder auch von kleinen Erfolgen gekrönt worden, die zum Weitermachen anspornten. Einen stattlichen Teil ihrer Bürgerpredigt widmete sie auch dem Thema Ukrainekrieg und der Haltung der Grünen, sich für die Unterstützung der Ukraine mit Waffen einzusetzen. Der Angriffskrieg sei eine klare Verletzung der UN-Charte von 1945, die mit dem hohen Preis von 60 Millionen Toten im zweiten Weltkrieg zustande kam. Als Abgeordnete hatte sie sich immer für eine restriktive Waffenpolitik Deutschlands eingesetzt, sehe es aber dennoch als Pflicht der Bundesrepublik an, Russland aufgrund seines Überschreitens der „Roten Linie” in seine Schranken zu weisen. „Wo Gewalt nicht entschieden entgegen getreten wird, bricht der Rechtsstaat zusammen”, so Keul. Sie glaube an die Fähigkeiten des vernunftbegabten Menschen. Doch dafür gebe es vermutlich ebensoviel Anzeichen wie an die jungfräuliche Empfängnis. Im Anschluss an den Gottesdienst gab es dann für die Besucher noch die Möglichkeit, sich mit der Bundestagsabgeordneten im Rahmen eines Sektempfangs vor der Kirche auszutauschen.