von Ralf Schymon
Leitender Notfallseelsorger im Landkreis Schaumburg
Wenn die Adventszeit zu Ende geht und der Höhepunkt mit Heiligabend gekommen ist. Alle Vorbereitungen sind getroffen, der Baum steht, das Essen ist vorbereitet und die Geschenke liegen unter dem Baum. Für viele beginnt das Fest mit dem Treffen der gesamten Familie und dem gemeinsamen Gang in die Kirche zur Weihnachtsmesse. Alle freuen sich auf ein paar ausgelassene Stunden, und die Kinder auf ihre Geschenke.
Zeitgleich, ca. 30 Kilometer weiter westlich, werden die letzten Vorbereitungen für „Weihnachten nicht Alleine“ getroffen. Es ist ein Angebot für Menschen, die Weihnachten allein wären, weil Angehörige zu weit entfernt leben, erkrankt sind oder bereits verstorben sind. Zusammen in die Kirche, danach ein gemeinsames Abendessen, Weihnachtslieder singen und im Anschluss Geschenke wichteln. Einfach in Gemeinschaft sein und nicht allein.
Für die Veranstaltung habe ich eine Kürbissuppe gekocht, mit anderen Ehrenamtlichen den Gemeinderaum hergerichtet, und wir warten auf die Gäste.
Seit knapp 2 Wochen habe ich bereits Bereitschaft für die Psychosoziale Notfallversorgung in meinem Ehrenamt als Notfallseelsorger und es war bisher ruhig. Nicht ein Einsatz in der gesamten Zeit.
Es ist 19:20 Uhr, alles ist vorbereitet, die Suppe warm, das Geläut der Kirche kündigt das Ende des Gottesdienstes an und es sind nur noch wenige Minuten, bis sich alle im Gemeindehaus versammeln. Plötzlich klingelt das Telefon. Der eingestellte Ton ist der Leitstelle in Stadthagen zugeordnet. Meine Frau starrt mich ungläubig an. Ich nehme das Telefonat an und melde mich. Die Polizei in Bad Nenndorf benötigt Unterstützung bei der Überbringung einer Todesnachricht an die Angehörigen. Ich nehme Kontakt zur Polizei auf und wir vereinbaren einen Treffpunkt, um uns vorher noch kurz abzusprechen.
Ich springe ins Auto und fahre los. Die Straßen sind frei, leise dröhnt etwas Weihnachtsmusik aus dem Radio, und ich denke bei mir: Das ist jetzt kein guter Zeitpunkt für eine solche Nachricht. Eigentlich ist es das in so einem Fall ja nie, aber ausgerechnet am Heiligabend?
Mit der Polizei treffe ich mich in einiger Entfernung vom Zielort, wir sprechen uns ab. Die Polizei sagt mir, dass die Familie wohl auch gerade aus der Kirche gekommen ist. Wir machen uns auf den Weg. Die Polizisten klingeln und wir sind alle angespannt. Die Tür wird geöffnet – ungläubige Blicke treffen uns. Kinder im Hintergrund, die neugierig um die Ecke schauen, um einen Blick zu erhaschen. Die Neugierde der Kinder ist schnell befriedigt, kein roter Mantel – also nicht der Weihnachtsmann!
Wir betreten das Haus, 2 Erwachsene machen mit den Kindern im Wohnzimmer Bescherung und der Rest der Familie geht in die Küche, wir überbringen die Nachricht. Es ist still – totenstill. Keiner rührt sich, alle sind wie zu Salzsäulen erstarrt, unfähig, etwas zu tun, zu reden oder sich zu bewegen. Dann geht die Wohnzimmertür auf, ein kleines blondes Mädchen – ich schätze sie auf 6–9 Jahre, kommt in die Küche, schaut in alle Gesichter, schaut mich an und sagt: „Du hast aber noch nie Weihnachten mit uns gefeiert!“, dreht sich um und geht auf die Toilette.
Dann die ersten Worte, Fassungslosigkeit über das Geschehene und die Frage nach dem Warum.
Nach 2 Stunden beende ich den Einsatz vor Ort, die Familie ist versorgt. Auf der Fahrt nach Hause denke ich darüber nach, was gerade vorgefallen ist, lasse die letzten Stunden Revue passieren und erreiche noch die Veranstaltung in unserer Kirchengemeinde. Ich bin dankbar und froh, dass noch viele Gäste vor Ort sind und ich ein Stück vom Zauber des Heiligen Abend mitnehmen kann.