Zwischen zwei Terminen steuerte ich ein Café an. Unterwegs begegnete ich Passanten, die ganz offensichtlich Weihnachtsgeschenke eingekauft hatten. Davon war ich noch weit entfernt. Mit dieser Beobachtung vor Augen, reihte ich mich hinter einem jungen Mann an einem Kuchentresen ein. Er trug ein kleines Holzkästchen unter seinem Arm. „Oh, Sie haben wohl schon ein spezielles Weihnachtsgeschenk gefunden, oder?“, wollte ich scherzend aber doch auch neugierig erfahren. Keine Reaktion.
„Ein Espresso bitte“, bat er die Bedienung. „Und Sie, was möchten Sie?“, wollte er plötzlich von mir wissen. „Ich, ich hätte auch gerne einen Espresso.“ Er schnappte sich seine Tasse und lud mich ein, mit dem zweiten Espresso bei ihm Platz zu nehmen, „wenn Sie es möchten“.
Vor uns, zwischen unseren Tassen, mitten auf dem kleinen Cafétisch, stand das kleine Holzkästchen, auf das ich unentwegt schaute. „Sie haben völlig recht. Es ist ein spezielles Weihnachtsgeschenk. Es ist von meiner Mutter. Nur für mich. Sie wollte nicht bis Weihnachten damit warten, um es mir zu schenken. Sie hat es mir gerade geschenkt. Einfach so. Ohne Verpackung.“
Das Holzkästchen wirkte gebraucht, abgenutzt, irgendwie mit einem Charme behaftet. Doch ein richtig schönes Geschenk sah für mich anders aus. Begeistert wirkte der Beschenkte auch nicht. Meine Neugier wurde größer.
Dann begann er zu erzählen. „Ich kenne das Kästchen von klein auf. Es stand all die Jahre in einer Kommode im Wohnzimmer. Ich habe mich nie getraut, den Deckel zu öffnen, obwohl es kein Verbot gab. – Irgendwann hatte sich der leichte Holzdeckel geöffnet. Da konnte man den Inhalt erkennen.“ Da stocke er, nippte an seiner Tasse, die längst leer war, und schluckte trocken. „Im Kästchen sind viele handbeschriebene Seiten. Meine Mutter hat sie alle geschrieben.“
Meine Neugier war kaum noch zu bremsen. Ich hätte am liebsten das Kästchen geöffnet und selbst hineingeschaut. Aber der junge Mann legte behütend seine Hände darauf, um dann seine Erzählung fortzusetzen. „Meine Mutter wollte, dass ich jetzt alles erfahre, was um mich herum geschehen ist, was sie alles erlebt hat und durchmachen musste, noch bevor ich geboren wurde und auch danach.“ Und der Inhalt des Kästchens rollte nur so in Worte gefasst aus seinem Mund. Nichts hätte ihn in diesem Moment wohl davon abhalten können, zu erzählen.
1995 wurde er in Bosnien geboren. Zu einer Zeit, als ein schrecklicher Krieg in diesem Land herrschte und keiner Rücksicht auf ungeborenes Leben und das Leben der Mütter und Kinder nahm. Sein Vater wurde als Soldat zwangsverpflichtet. „Meine Mutter hat ihn nie wieder gesehen. Und ich habe ihn nie kennengelernt.“ In den Briefbögen beschreibe seine Mutter seinen Vater und die Liebe, die sie zusammengeführt habe. „Nach meiner Geburt floh meine Mutter mit mir nach Deutschland. Von einer Flüchtlingsunterkunft aus, kam sie nach Rodenberg. Nur das Nötigste nahm sie mit. Darunter Fotos. „Von meinen glücklichen Eltern und den Großeltern.“
Die Beschreibungen in diesem Kästchen berichten von größten Grausamkeiten während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien. Sie sind unfassbar und kaum zu ertragen. Wäre ich doch nur nicht so neugierig gewesen, dachte ich. Es fiel dem jungen Mann äußerst schwer, dieses Leid seiner Mutter zu erzählen. Nie zuvor hatte sie davon erzählt. Auch dann nicht, wenn er immer wieder und immer stärker nach seinem Vater, seinen Verwandten und seinem Heimatland gefragt hatte.
„Es ist ein unglaublich persönliches Weihnachtgeschenk meiner Mutter für mich. Ein Weihnachtsgeschenk der Wahrheiten aus unserem Familienleben. Ein besonderer Schatz, auch wenn das Kästchen nicht annähernd den Wert wiederspiegelt.“ – Ich wollte mich für meine Neugier entschuldigen. Das lehnte er entschieden ab. Vielmehr bedankte er sich für das offene Ohr und die Geduld mit ihm.
„Ich habe aber noch ein Problem“, nahm er das Gespräch neu auf. „Ich weiß nicht, was ich nach diesem Geschenk meiner Mutter ihr zu Weihnachten schenken kann.“ Dann stand er auf, nahm das Kästchen in seine Obhut, zahlte beide Espressi, ging zur Tür, drehte sich um: „Auf Wiedersehen. Ich merke schon: auch Ihnen fällt kein passendes Geschenk ein.“