SACHSENHAGEN (jo). Als wüsste der Himmel, dass heute ein besonderer Tag ist, lässt er wie auf ein geheimes Kommando hin, die ersten weiße Flocken des Jahres auf Felder, Dächer und Waldlichtungen rieseln. Hübsche Flocken sind das, aber eben auch nasse und kalte Flocken. So nass, dass sie einem irgendwann die Kleider klamm an der Haut kleben lassen. So kalt, dass sie die Sehnsucht nach einem warmen Nest in jedem Lebewesen plötzlich ganz groß und elementar werden lassen. Mit schneematschspritzenden Reifenprofilen biegt ein quietschbunter Bus auf einen Parkplatz hoch oben im Wald ein. Mit einem lauten Krachen öffnet sich die breite Schiebetür und eine Gruppe Jugendlicher springt mit gewaltigen Sätzen hinunter in die Pfützen auf dem Schotterweg. Zwanzig sind es insgesamt. In dicke Winterjacken gehüllt und mit rotgefrorenen Nasen warten sie vor einem eisernen Gittertor auf Einlass und betrachten neugierig das dort angebrachte Schild: „Wildtier- und Artenschutzstation”. Allmählich zieht Wind auf. Die hübschen Schneeflocken sind längst zu schweren Regentropfen geworden und niemand hat an einen Regenschirm gedacht. Doch dann geht es endlich los. Eine schlanke Frau in Regenjacke, mit Lachgrübchen und einem wippenden, blonden Pferdeschwanz tritt aus einem hölzernen Anbau, schließt die Gittertür auf und lässt die Jugendlichen auf das weitangelegte, ehemalige Militärelände treten. Höchste Zeit, um ins Trockene zu kommen. In einer hohen, dunklen Lagerhalle stellen sich die Kinder, die Jugendlichen und ihre Betreuer in einem lockeren Halbkreis auf. Die Jungen sind aufgekratzt, die Mädchen schnattern und scherzen. Geduldig wartet die Biologin Karin Peters, bis die meisten von ihnen aufgehört haben zu reden. Dann beginnt sie, über die Artenschutzstation zu sprechen. Darüber, dass sie hier als freie Mitarbeiterin arbeitet, Führungen macht, Tiere pflegt. Und darüber, dass die Wildtierstation, neben allem anderen, irgendwie auch ein Kinderheim ist. Für verwaiste Singvögel, Igel, Fledermäuse und Eichhörnchen. Und viele andere, heimische Waldtiere, welche aus dem Nest gestürzt sind oder von ihren umsorgenden Müttern allein gelassen wurden, weil diese einem tödlichen Autoreifen oder einem Stacheldrahtzaun zum Opfer fielen. Darüber, dass eben diese hilflosen Wesen in der Station ein neues Heim finden. In dem sie gewärmt, gefüttert und gesund gepflegt werden. In dem sie stark gemacht werden, für die Welt außerhalb der schützenden Gitterzäune. Und da, ganz plötzlich, wird es auf einmal furchtbar still in der großen Halle. Und alle hören zu.
Obwohl sie beinahe so wirken, wird dem äußeren Betrachter recht schnell klar, dass es sich bei der Gruppe Jugendlicher und Kinder nicht bloß um eine gewöhnliche Ferienfreizeit oder einen Klassenausflug handelt. Tatsächlich feiern die Bewohner der Kinder- und Jugendwohngemeinschaft Schierbachhaus an diesem Nachmittag ihre Weihnachtsfeier. Die Acht- bis Achtzehnjährigen weisen allesamt Verhaltensauffälligkeiten oder psychischen Störungsbilder auf. Sie kämpfen mit Verwahrlosungen im sozialemotionalen Bereich, mit Lernschwierigkeiten, stammen aus gewaltbereiten Familien oder Pflegefamilien. Ihre scheinbar simplen, physischen und psychischen Grundbedürfnisse nach Beschäftigung, Anerkennung und Nähe, all dies blieb den meisten von ihnen bisher in ihrem Leben verborgen. Was aus diesen einschneidenden Erfahrungen folgt, ist oftmals der lange, ungewollte Aufbau einer inneren Mauer. Sich selbst vor der Außenwelt schützen, heißt die Devise. Egal wie.
Nun leben die Jungen und Mädchen gemeinsam in Wohngruppen, werden von Pädagogen geschult, von Psychologen begleitet und von Lehrkräften unterstützt. Zusammen stärken sie ihre soziale Fertigkeiten , verbessern ihre schulische Leistungen und lernen, für sich selbst zu sorgen. „Wir wollen ihnen helfen, diese für viele doch so komplexen und wichtigen Fähigkeiten, Kulturtechniken und Elementartugenden zu erwerben und den ganz normalen Alltag zu bewältigen”, erklärt der blonde, hochgewachsene Wolfgang Stolle und rückt sich seine Brille auf der Nase zurecht. Im Jahre 1996 gründete er die Jugendwohngemeinschaft Schierbachhaus in Nienstädt. Später folgte eine weitere Einrichtung in Wendthagen und eine Verselbständigungsgruppe. Der Ausflug in die Artenschutzstation soll die Gemeinschaft in der Gruppe stärken und den Kindern und Jugendlichen in der Vorweihnachtszeit ein besonderes Erlebnis bescheren. Und die Idee funktioniert: Nach dem ersten Stopp in der großen Lagerhalle und der Fütterung eines maderartigen Nerzes in einem Außengehege, sind die Jugendlichen heilfroh, als sie endlich ein beheiztes Haus betreten dürfen, in dessen zahlreichen Räumen ausgeleuchtete Terrarien und großzügige Käfige Platz für Leguane, Schildkröten und Papageien aus desolater Haltung bieten. Die Stimmung ist gelöst, es wird gelacht und gescherzt. Und obwohl sich die siebzehnjährige Steffi beim Anblick einer gewaltigen Teppichpython und der stacheligen Bartagamen anfangs noch schwer tut, fasst sie sich am Ende der informativen Führung doch noch ein Herz, betritt den beheizten Exotenraum, in dem gar tropische Temperaturen zu herrschen scheinen, und betrachtet neugierig einen winzigen Babykaiman in einem Wasserbecken.
Nach knapp zwei Stunden geht es für die Heranwachsenden in ihrem orangenen Bus und über schneebedeckte Straßen zurück in die Wohngemeinschaften. Dorthin, wo buntgeschmückte Weihnachtsbäume, lustige Gedichte und liebevoll verpackte Geschenke mit bunten Schleifen auf sie warten. Dorthin, wo sie ausgelassen über ihr Erlebtes sprechen können und wo ihnen jemand zuhört. Der heutige Ausflug in die Artenschutzstation wird den meisten von ihnen wohl in dankbarer Erinnerung bleiben. Und vielleicht haben die Jugendlichen und Kinder im Umgang mit den verwaisten Wildtieren ja auch etwas über die äußere Welt und irgendwie auch etwas über sich selbst erfahren. Denn wie sagte bereits der Musiker Reinhard Mey: „Je kaputter die Welt draußen, desto heiler muss sie zu Hause sein”.
Fotos: jo
BUZ LKGLJO51_01: Gemeinsam neues erleben: Bei Schnee und Regen besuchten die Kinder und Jugendlichen des Schierbachhauses die Artenschutzstation und verlebten so eine ganz besondere Weihnachtsfeier.
BUZ LKGLJO51_02: Ehrliches Interesse: Die Kinder und Jugendliches des Schierbachhauses lernen Informatives über heimische und exotische Wildtiere.