Heute sind Demos ja nichts Außergewöhnliches mehr. Zu der Zeit, als ich studierte, war das noch anders. „Wehe, ich sehe dich im Fernsehen bei so einer Demonstration! Dann passiert was!”, warnte mich mein Vater Anfang der 1970er. Er und viele Menschen seiner Generation hielten demonstrieren für etwas Ungehöriges. Jedoch gehörte schon damals das Demonstrationsrecht zu unseren Grundrechten. Und ich finde das großartig! Es ist Teil unserer Freiheit. Und wie viel wurde auch dadurch in den letzten Jahrzehnten zum Guten gewendet. Um nur ein Beispiel zu nennen: der Fall der Mauer, die Wiedervereinigung Deutschlands. Gewaltfreie Protestmärsche und Demonstrationen sind für mich immer am eindrucksvollsten, auch wenn ich nicht immer dem Inhalt der Proteste zustimme: Kundgebungen gegen Regierungspolitik, gegen Tierversuche, Kritisierung der Globalisierung, für Umweltschutz, für eine bestimmte Einwanderungspolitik, für oder gegen Straßenneubauten, Gegendemonstrationen, für gewerkschaftliche Ziele, die Montagsdemonstrationen 1989/90, die jährlichen Ostermärsche, „Fridays for Future”, Demokratie-Demos in Myanmar. Hier standen und stehen Menschen friedlich für ihre Überzeugungen ein. Doch es gibt auch die anderen, die von Gewalt zeugen. Sei es physische oder verbale Gewalt. Eines der schlimmsten Beispiele dafür war für mich die Demo vor und im Kapitol in Washington. Und wer gegen Asylbewerber und Ausländer mit den Worten „Wir sind das Volk” auf die Straße zieht, übt ebenfalls Gewalt aus, verbale Gewalt. Denn auch ich gehöre zum Volk und will mich nicht einbeziehen lassen, sondern bin darüber empört. Auch wenn Jugendliche in Irland durch Gewaltexzesse protestieren, ist das für mich einfach schwer zu ertragen. Was mich zurzeit in unserem Land besonders ärgert ist die Form, in der sogenannte „Querdenker” gegen Corona-Beschränkungen demonstrieren. Hier gehen tausende Menschen ohne Abstand und Maske gegen Schutzmaßnahmen vor der Corona-Pandemie auf die Straße. Sie gefährden so sich und schlussendlich auch uns alle. Ausbaden dürfen und müssen dies dann zusätzlich die Pflegekräfte in den Kliniken, die ohnehin schon mehr als zumutbar belastet sind. Ja, ich bin überzeugt davon: das Demonstrationsrecht ist ein hohes Grundrecht unserer Freiheit. Denn Freiheit beginnt, wo Menschen aufbegehren, sich gegen die überkommenen Mächte stellen. Freiheit beginnt im Protest. Aber Freiheit bedarf der Verantwortung. Sie hört dort auf, wo die Freiheit – und in diesem Fall – die Gesundheit anderer gefährdet wird. „Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.” So steht es im 2. Brief des Paulus an Timotheus. Ich protestiere gegen den verantwortungslosen Gebrauch der Freiheit und des Demonstrationsrechtes, ohne Liebe für den Nächsten und ohne Besonnenheit. Immer, wenn andere Menschen gefährdet werden könnten, brauchen wir Besonnenheit – nicht Rücksichtslosigkeit oder Dummheit oder gar Populismus. Demonstrationen – ja! Von mir aus auch gegen Corona-Beschränkungen. Aber bitte mit Rücksicht, Anstand und Besonnenheit! „Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.” Also bitte, demonstrieren wir weiter, aber seien wir dabei liebevoll, besonnen und geduldig!