Wenn ich morgens aus dem Haus gehe, raschelt das Laub unter meinen Schuhen. Manche Wege sind schon mit einer bunten Decke überzogen, und manchmal bleibe ich kurz stehen, um die Farben zu betrachten.
Gold, Rot, Braun – die Bäume zeigen noch einmal ihre ganze Pracht, bevor sie kahl werden. So schön dieser Anblick ist, so deutlich wird auch: Bald sind die Äste leer, der Winter steht vor der Tür. Genau das macht den Herbst für mich zu einer besonderen Zeit. Er zeigt mir: Loslassen gehört zum Leben. Die Bäume halten ihre Blätter nicht krampfhaft fest. Sie lassen sie ziehen – und schaffen damit Raum für Neues.
Auch in meinem Alltag kenne ich dieses Loslassen. Es beginnt bei kleinen Dingen: beim Aufräumen eines Schrankes, wenn ich merke, wie befreiend es sein kann, Altes weiterzugeben. Bücher, die nur noch Staub ansetzen. Kleidung, die ich seit Jahren nicht mehr trage. Dinge, an denen Erinnerungen hängen, die aber längst keine Bedeutung mehr für mein Leben haben. Wenn ich ehrlich bin, fällt mir das Loslassen nicht immer leicht. Und doch merke ich fast jedes Mal: Danach fühlt es sich leichter an, freier, klarer.
Manchmal geht es aber um Größeres. Um Sorgen, die ich schon viel zu lange mit mir herumtrage. Um Erwartungen – eigene oder fremde –, die wie eine unsichtbare Last auf meinen Schultern liegen. Oder um Beziehungen, in denen Worte ungesagt geblieben sind. Auch hier spüre ich: Festhalten kostet Kraft. Loslassen ist kein Scheitern, sondern ein Schritt zu mehr Lebendigkeit.
Vielleicht ist der Herbst genau die richtige Jahreszeit, um sich solche Fragen neu zu stellen:
Was möchte ich in meinem Leben behalten, weil es mir guttut und mich stärkt?
Und was darf ich getrost loslassen, weil es mir eher den Blick verstellt auf das, was vor mir liegt?
Ich glaube, wir brauchen diese Balance. Wir sind nicht nur dazu geschaffen, festzuhalten – wir dürfen auch loslassen. So wie die Bäume, die ihre Blätter verlieren und damit nicht ärmer, sondern stärker werden. Sie sparen Kraft, sie überstehen den Winter – und sie sind bereit, im Frühling neu auszutreiben.
Ein uraltes Wort aus der Bibel drückt genau das aus: „Alles hat seine Zeit: das Pflanzen und das Ausreißen, das Behalten und das Wegwerfen.“ (Prediger 3,1–6)
Es erinnert mich daran, dass jeder Abschnitt im Leben seinen Sinn hat. Es gibt eine Zeit, Dinge zu bewahren – und es gibt eine Zeit, sich von ihnen zu lösen. Und beides gehört zusammen, beides hat seine Würde. Darum mag ich den Herbst so sehr: Er fordert mich heraus, ehrlich auf mein Leben zu schauen. Er schenkt mir Momente der Dankbarkeit für das, was gewachsen ist. Und er lädt mich ein, mutig Platz zu schaffen für das, was kommen will.
So erinnert mich jeder Herbstspaziergang daran: Wer loslässt, macht Platz fürs Leben – und darf darauf vertrauen, dass Neues wachsen wird.