Aus Liebe zur Wahrheit und im Verlangen, diese zu erhellen, stellte Martin Luther damals seine 95 Thesen auf. Er hielt fest, dass äußerliche Geldgeschäfte der Kirche keinen Menschen erleichtern und ein zufriedenes Gottes- und Selbstverhältnis erwirken können, sondern allein der Glaube an Jesus Christus und die Gnade Gottes. Seine Thesen rüttelten Kirche und Gesellschaft durch und machten ihn zum Ketzer. Auf dem Reichstag zu Worms 1521 sollte er seine Lehren vor Kaiser und Kirche widerrufen. Doch das tat er nicht. Er stellte seine Position sachlich und überlegt dar und unterstrich: „Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift oder klare Vernunftgründe überzeugt werde, kann und will ich nichts widerrufen. Gott helfe mir, Amen!”
Luthers Worte sind nicht nur zu einem Beispiel der Standhaftigkeit geworden, sondern erinnern daran, dass Christen der Wahrheitssuche verpflichtet sind. Wer sich auf Gott bezieht, ist Teil einer wahrheitssuchenden Gemeinschaft und darum bemüht, Wahrheit zur Sprache zu bringen. Nicht in der Überzeugung diese schon endgültig und abschließend gefunden zu haben, sondern in einer Haltung des Suchens, Lernens und vertieften verstehen Wollens. In den biblischen Texten und der Gottesbeziehung entdecken Christen Wesentliches für das Leben und versuchen dies mit anderen Menschen und Erfahrungen, mit Lebenswelt und wissenschaftlichen Erkenntnissen ins Gespräch zu bringen. Dabei geht es immer wieder um die Unterscheidung von persönlicher Gewissheit („Was leuchtet mir ein?“) und tragfähigen Konsensen („Was leuchtet uns gemeinsam ein?“). Die Suche nach Wahrheit ist also eine kommunikative Aufgabe, die auf Positionen und Argumente, Diskurs und Verständigung, Kritik und Redlichkeit angewiesen ist.
Mir scheint es wichtig, dass wir die Suche nach Wahrheit nicht aufgeben. Wir brauchen in religiöser, gesellschaftlicher und persönlicher Hinsicht tragfähige Positionen, die nicht nur Fassade sind. Unsere Zeit ist geprägt von so viel Rhetorik und Manipulation, von bewegenden Bildern und leichten Slogans, dass wir gefordert sind, wach und aufmerksam hinter die Kulissen zu blicken, um nicht leichtfertig irgendetwas mitzumachen oder irgendwem zuzustimmen. Die üblen Geldgeschäfte rund um den Ablasshandel der Kirche zu Luthers Zeiten hat zunächst auch niemand bemerkt. Alles war gut inszeniert und Menschen waren aufgrund von Ängsten, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit ansprechbar, bis die Wahrheit ans Licht kam.