Morgen ist der 9. November. Ein Tag, der uns mahnt. Ein Tag, der uns erinnert an das, was Menschen Menschen antun können, wenn der Hass regiert. 1938 brannten die Synagogen, wurden jüdische Geschäfte zerstört, Menschen verhaftet und misshandelt. Auch hier bei uns.
Der Sportmoderator Marcel Reif sprach 2024 bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Er erzählte von seinem Vater Leon, der die Schoah überlebte - im letzten Moment wurde er aus einem der Züge in Richtung Konzentrationslager gerettet. Später gab Leon Reif seinem Sohn Marcel einen Satz mit, der ihn sein Leben lang begleitete: „Sei ein Mensch.” Drei Worte. Simpel. Und doch so schwer.
Menschlichkeit ist nicht selbstverständlich. Das zeigt uns die Geschichte. Das zeigen uns auch die Nachrichten von heute. Menschlichkeit ist eine Entscheidung, die wir täglich treffen müssen. Eine Entscheidung gegen die Gleichgültigkeit. Gegen das Wegschauen. Gegen die Versuchung, andere zu entmenschlichen. „Sei ein Mensch” - das bedeutet: Sieh den anderen als Menschen. Nicht als Fremden, nicht als Bedrohung, nicht als Problem. Als Menschen mit einer Geschichte, mit Gefühlen, mit Würde. In einer Zeit, in der Polarisierung zunimmt, in der Menschen wieder in „wir” und „die anderen” eingeteilt werden, ist diese Mahnung aktueller denn je. Menschlichkeit beginnt mit dem Blick. Mit der Bereitschaft, hinzuschauen. Mit der Entscheidung, den anderen als Mensch zu sehen. „Warum immer wieder daran erinnern?”, fragen manche. „Das ist doch lange her.” Aber Erinnern ist nicht rückwärtsgewandt. Erinnern ist Zukunftsarbeit. Es schärft unseren Blick für das, was gerade passiert. Es macht uns sensibel für die ersten Schritte, die zum Unheil führen. Erinnern lehrt uns: Es fängt klein an. Mit Worten. Mit Ausgrenzung. Mit dem Gefühl, manche Menschen seien weniger wert als andere. Die Novemberpogrome waren nicht der Anfang - sie waren eine Etappe auf einem Weg, der schon Jahre vorher begonnen hatte. Mit Sprache, die Menschen zu Objekten machte. Mit Gesetzen, die Unterschiede zwischen Menschen zementierten. Mit einer Gesellschaft, die wegschaute. Erinnern ist auch ein Akt der Solidarität mit den Opfern. Es sagt: Euer Leiden war nicht umsonst. Euer Leben hatte Wert. Wir vergessen euch nicht.
Jesus kannte die Versuchung zur Abgrenzung. Seine Zeitgenossen fragten: Wer gehört dazu? Wer ist unser Nächster? Jesus antwortete mit der Geschichte des barmherzigen Samariters (Lukas 10, 25-37). Er machte deutlich: Dein Nächster ist der, der deine Hilfe braucht. Auch wenn er zu einer anderen Gruppe gehört. Auch wenn er „anders” ist. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”, sagte Jesus. Das ist das Gegenprogramm zum Hass. Es ist die radikale Entscheidung für die Menschlichkeit. Für die Würde jedes Menschen. Für „Sei ein Mensch.”. Jesus ging noch weiter: „Liebt eure Feinde.” Das ist keine Aufforderung zur Naivität. Es ist die Erkenntnis, dass Hass immer zerstört - auch den, der hasst. Es ist die Überzeugung, dass Menschlichkeit stärker ist als Unmenschlichkeit. Dass Liebe am Ende siegt.
Menschlich sein zeigt sich im Kleinen. In der Art, wie wir über andere sprechen. In der Bereitschaft zuzuhören, statt zu urteilen. In dem Mut, aufzustehen, wenn jemand ausgegrenzt wird. In der Entscheidung, Brücken zu bauen statt Mauern. Menschlichkeit zeigt sich auch darin, dass wir nicht schweigen, wenn Unrecht geschieht. Dass wir widersprechen, wenn Menschen pauschal verurteilt werden. Das ist nicht immer bequem. Aber es ist menschlich. In Erinnerung an die Novemberpogrome zeigt uns die Geschichte das Schlimmste, wozu Menschen fähig sind. Aber sie zeigt uns auch das Beste. Menschen, die andere gerettet haben unter Lebensgefahr. Menschen, die ihre Menschlichkeit bewahrt haben, auch in unmenschlichen Zeiten. Diese Menschen waren nicht perfekt. Sie waren nicht heldenhafter als andere. Sie haben nur eine Entscheidung getroffen: Sie wollten Menschen bleiben. Morgen gedenken wir der Opfer von 1938. Wir gedenken ihrer, damit sich das Unheil nicht wiederholt. Wir gedenken ihrer, damit wir wachsam bleiben. Und wir gedenken ihrer, damit wir uns jeden Tag neu entscheiden: für die Menschlichkeit, für die Würde aller Menschen, für das Leben.